Was geht in Duisburg? Teil 2

Jess Palka & Sarah Y. Kanatli

Marxlohs “verborgene” Wirtschaft

Die Student:innen erhielten eine theoretische Einführung in die sozioökonomischen Probleme von Arbeitsmigrant:innen in versteckten wirtschaftlichen Arrangements und in die Frage, wie CBPR-Ansätze als Reaktion auf den Forschungsbedarf lokaler Partner:innen angewendet werden könnten.  Was oft als Schatten-, versteckte, informelle, nicht angemeldete oder Untergrundwirtschaft bezeichnet wird (um nur einige der vielen, weitgehend austauschbaren Begriffe zu nennen), ist ein Segment der formellen Wirtschaft, das in irgendeiner Weise unbeobachtet, unerkannt, unreguliert oder illegitim, aber nicht illegal per se ist (Williams & Windebank, 2004). Aufgrund dieses verborgenen Status ist es oft schwierig, wenn nicht sogar – aus logistischen und/oder ethischen Gründen – unmöglich, solche wirtschaftlichen Aktivitäten direkt zu beobachten. Daher ist es für den öffentlichen Sektor und die Sozialarbeiter:innen schwierig, das Wohlergehen von Arbeitsmigrant:innen und ihren Familien wirksam zu verbessern.

Diese informelle Wirtschaftstätigkeit und die sozioökonomische Marginalisierung von Arbeitsmigrant:innen in der Europäischen Union (EU) sind in den letzten Jahren zu wichtigen Themen von akademischem, politischem und öffentlichem Interesse geworden. So erlangte Deutschland, vor allem das Bundesland Nordrhein-Westfalen, besondere Aufmerksamkeit durch die Covid-19-Virus Ausbrüche in der Fleischindustrie und dabei wurde eine Vielzahl arbeitsrechtlicher bzw. „arbeitsmigrantischer“ Probleme und Herausforderungen aufgedeckt. In hohem Maße betroffen waren von jenen Ausbrüchen insbesondere Mitarbeiter:innen aus  Ost- und Südosteuropa, welche als Werkvertragsarbeitskräfte nach Deutschland angeworben wurden. Auf diesem Wege gerieten bisher verborgene Bilder von schlechten Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie Vorwürfe von “systemischer Ausbeutung” (BBC News, 2021) und “moderner Sklaverei”  (Deutsche Welle, 2020) an die Öffentlichkeit (obwohl diese Begriffe nicht ohne Kritik sind: Birke, 2022). Neu angekommene oder mobile Arbeitsmigrant:innen in Marxloh, von welchen viele nur begrenzte Rechte, Zugang zu oder Kenntnis von ihrem sozio-rechtlichen Schutz haben, leben und arbeiten in einem sozialökonomischen Kontext, der im Allgemeinen vom Mainstream abgekoppelt und versteckt ist.

Die Student:innen erfuhren dabei unter anderem von den Praktiker:innen, dass Marxloh schon seit langem Arbeitsmigrant:innen anzieht. Durch die Südosterweiterung der EU (2007/2014) erhielten z.B. Bürger:innen aus Bulgarien und Rumänien Rechte von Freizügigkeit, sowie Dienstleistungsfreiheiten, welche sie auf der Suche nach besseren Lebensperspektiven nutzen. Im Zuge dessen wurde auch Duisburg, insbesondere Stadtteile wie Marxloh und Hochfeld, zu einem Hauptzielgebiet jener neuen EU-Binnenwanderung. Begünstigt wurde dieser Prozess unter anderem durch viele Wohnungsleerstände. Dadurch kehrte sich jahrelanger Bevölkerungsschwund in Marxloh in Bevölkerungswachstum. Speziell ist seit 2009 ist ein extremer Anstieg der Bevölkerung zu verzeichnen (+20 %), wobei der Anteil der bulgarischen und rumänischen Migranten an der Gesamtbevölkerung inzwischen bei 26 % liegt (Open Data Duisburg, 2019). Dieses plötzliche Wachstum hat zu verschiedenen Spannungen zwischen alteingesessenen und neu zugezogenen Einwohnern geführt, die häufig ein niedriges Bildungs- und Einkommensniveau, sowie unterschiedliche Erfahrungen mit Diskriminierung, wirtschaftlichen Möglichkeiten und Integration haben (Böckler et al., 2018). Das komplizierte sozioökonomische Bild hat dabei zu Kontroversen über heruntergekommene Wohnungen und Zwangsräumungen geführt (RP Online, 2019), übermäßiger Müll (Der Westen, 2018) und unethische, wenn nicht sogar illegale Mietvereinbarungen (Wochen Anzeiger, 2020) auf dem “Schatten”-Wohnungsmarkt, die in den Medien, der Politik (CDU-Ratsfraktion Duisburg, 2019; DIE LINKE, 2021; GRÜNE Duisburg, 2021) und der Gesellschaft kontrovers diskutiert werden.

Angesichts der geringen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung und des hohen Anteils prekärer, a-typischer Beschäftigungsverhältnissen in Duisburg und anderen benachbarten Ruhrgebietsstädten wie Gelsenkirchen, Dortmund und Bochum (Wenderlich, 2017), sind viele bulgarische und rumänische Migranten wahrscheinlich in informellen Arbeitsverhältnissen (in der Region und weiter) in Branchen wie Reinigung, Logistik, Bau, Lebensmittelindustrie und urbane Produktion, aber auch als Erntehelfer in der Landwirtschaft tätig (Stadt Dortmund, 2021).

Mit prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen (und der möglichen zusätzlichen Komplikation dualer Arbeitgeber-Vermieter-Beziehungen, sowie Mehrfachabhängigkeiten für Transport, Einsatzorte, aufenthaltsrechtlichen Status, usw.) überleben viele Menschen mit Armutslöhnen, die unter dem Arbeitslosengeld liegen, schlechten Arbeitsbedingungen, fehlender Krankenversicherung und mit eingeschränktem Zugang zu Dienstleistungen, Schwierigkeiten bei der Suche nach Kindergarten- und Schulplätzen, unterbrochener oder begrenzter Unterstützung bei der Integration und wenig bis gar keinem Bewusstsein für ihre gesetzlichen Rechte oder wie sie diese durchsetzen können[i].

Trotz der zahlreichen Herausforderungen gibt es viele Menschen, die sich aktiv dafür einsetzen, die langfristigen Aussichten für die Existenzsicherung und gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten von Migranten, den sozialen Zusammenhalt und die nachhaltige Entwicklung der Gemeinschaft in Marxloh zu verbessern. Dabei engagieren sich vor allem Menschen vor Ort, die Initiativen wie Tausche Bildung für Wohnen, Kulturbunker Bruckhausen und den Runder Tisch Marxloh betreiben. Außerdem gibt es von der Stadtverwaltung koordinierte und kofinanzierte Projekte, die sich sowohl an Kinder als auch an Erwachsene richten, wie der in Bau befindliche Campus Marxloh, der einen zentralen Raum für kulturelle Integration, soziale Unterstützung und Beratungsdienste, sowie Lern-, Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten bieten wird.

Der Europäischen Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen (EHAP) ist ein EU-, bundes- und kommunal gefördertes Projekt, das in Kooperation zwischen dem  Duisburger Werkkiste, dem Kommunales Integrationszentrum (KIZ) Duisburg und der Gemeinnützige Gesellschaft für Beschäftigungsförderung (GfB) umgesetzt wird, die die soziale Integration von neu zugewanderten EU-Bürger:innen unterstützt und u. a. von Obdachlosigkeit bedrohte Personen auf Rumänisch berät. Das Kommunales Integrationsmanagement (KIM) Regionale-Support-Center bietet auch rechtskreisübergreifende Beratung für Migrant:innen an, um die Integration vor Ort zu unterstützen. Dies sind nur einige der vielen verschiedenen Programme, Organisationen und Partner, die darauf ausgerichtet sind, sowohl den neu angekommenen Migrant:innen als auch den alteingesessenen Einwohner:innen von Marxloh ein besseres Leben zu ermöglichen.

Campus Marxloh (Stadt Duisburg, 2022)

Während die Praktiker:innen die Herausforderungen des Stadtteils offen anerkennen, betonen sie auch, dass die positiven Bemühungen und Ergebnisse selten oder nie nach außen kommuniziert werden. Marxloh wird häufig nur als ein Ort des “Mülls und der Migration” dargestellt, vor allem von externen Politikern, Medien und anderen Akteur:innen, die diese Darstellungen für ihre eigenen Zwecke nutzen und sich selten die Zeit nehmen, etwas über das Gute in diesem Stadtteil zu erfahren oder darüber zu sprechen. Die unaufhörliche Reproduktion solcher negativen Stereotypen verstärkt die Stigmatisierung und den Kampf, dem die Menschen in Marxloh täglich ausgesetzt sind. Außerdem werden die lange Geschichte der erfolgreichen sozialen Integration in Marxloh, die aktuellen Fortschritte der Bewohner:innen und der Praktiker:innen, sowie das Potenzial, welches eine so aktive und vielfältige Gemeinschaft bietet, übersehen.

Vorausschauende Perspektive

Ein Großteil des Wissens und der Fakten, welche wir während dieses Seminars erarbeiteten, stammten von externen Forscher:innen, Organisationen des öffentlichen Sektors und den Erfahrungen der in Marxloh tätigen Fachleute. Dies ist eindeutig weit entfernt von dem Ideal der gemeindebasierten partizipatorischen Forschung – welches besagt als Partner:innen direkt mit den Menschen in Dialog zu treten, welche sonst die Forschungsobjekte sind. Obwohl sie immer noch als externe Forscher:innen agieren, gaben Gespräche mit Praktiker:innen und persönliche Besuche in Marxloh den Student:innen die Möglichkeit, die Verbindung von Theorie und Praxis zu leben und einen besseren Einblick in die Herausforderungen der benachteiligten Menschen und in die Maßnahmen zu deren Bewältigung zu gewinnen.

Die ideale partizipative Forschung beinhaltet die Beteiligung, wenn nicht sogar die Kontrolle der Gemeinschaft in allen Phasen der Forschung, was nur selten realisierbar ist und für bereits gefährdete oder überlastete Menschen potenziell schädlich sein kann. Bislang waren derartige partizipative Forschungen nicht möglich. Unsicherheiten und Herausforderungen, welche die Covid-19-Pandemie mit sich brachte, schränkten die Beteiligungsbereitschaft der Bürger:innen bereits bei anfänglichen Ideenfindung und Formulierung von Forschungsfragen und -designs ein. Somit gestaltete sich das Projekt als logistisch schwierig und in weiteren Zügen auch als ethisch fragwürdig. Es bleibt jedoch zu hoffen, dass sich im Zuge der weiteren Entwicklung dieser Partnerschaft zwischen Gemeinde und Forschung eine größere Gruppe von Menschen in Marxloh aktiv an der Entwicklung und Durchführung eines gemeindebasierten Forschungsprojekts beteiligen kann.

Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass es eine solche fertige oder homogene „Community“-Gruppe von Menschen gibt, die das Interesse, die Zeit und die Kapazität haben, sich in der Forschung zu engagieren. Eine solche Gruppe braucht Zeit, um sich zu formen, und zwar auf der Grundlage eines gemeinsamen Themas oder einer gemeinsamen Erfahrung, die kollektives Nachdenken, Verständnis und schließlich Maßnahmen zur Erreichung eines sozialen Wandels erfordert.

Wenn Sie daran interessiert sind, eine solche Gruppe in Marxloh zu gründen, oder wenn Sie andere Fragen zu dem Projekt haben, wenden Sie sich bitte an jessica.palka@uni-due.de um weitere Informationen zu erhalten und lesen sie Was geht in Duisburg? Teil 1.

Quellen:

Birke, P. (2022). Grenzen aus Glas: Arbeit, Rassismus und Kämpfe der Migration in Deutschland. Mandelbaum Verlag.

Böckler, S., Gestmann, M., & Handke, T. (2018). Neuzuwanderung in Duisburg-Marxloh: Bulgarische und rumänische Zuwanderer und Alteingesessene imAnkunftsquartier. Springer VS research. Springer VS.

CDU-Ratsfraktion Duisburg. (2019). CDU-Ratsfraktion unterstützt Task Force „Problemimmobilien“. CDU-Ratsfraktion Duisburg.

Deutsche Welle. (2020). Coronavirus: ‘Modern slavery’ at the heart of German slaughterhouse outbreak. Deutsche Welle (www.dw.com).

GRÜNE Duisburg. (2021). Anfragen im Rat zur Task-Force Problemimmobilien. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Hänig, K. (2018, March 1). Wie ist der Stand bei den Problemhäusern in Duisburg? Wie viele gibt es noch? Wie geht’s weiter? Der Westen.

Harpers, T. (2019, April 5). „Task Force Schrottimmobilien“: Stadt Duisburg lässt Wohnhäuser in Marxloh räumen. RP Online.

Kindon, S., & Elwood, S. (2009). Introduction: More than Methods—Reflections on Participatory Action Research in Geographic Teaching, Learning and Research. Journal of Geography in Higher Education, 33(1), 19–32. https://doi.org/10.1080/03098260802276474

Lee, G. (2021, April 1). Coronavirus: What went wrong at Germany’s Gütersloh meat factory? BBC News.

DIE LINKE. (2021). Duisburg solidarisch: Task Force Problemimmobilien weiterentwickeln. kommunalpolitisches forum nrw e.V.

Mangliers, S. (2020, February 7). “Schrottimmobilien” ein Ende setzen: In Marxloh wird die erste von elf Problemimmobilien abgerissen. Wochen Anzeiger.

Open Data Duisburg. (2019). Einwohnerstatistik 2019. Stadt Duisburg.

Pain, R., Finn, M., Bouveng, R., & Ngobe, G. (2013). Productive Tensions—Engaging Geography Students in Participatory Action Research with Communities. Journal of Geography in Higher Education, 37(1), 28–43. https://doi.org/10.1080/03098265.2012.696594

Stadt Dortmund. (2021). Dortmunder Sachstandsbericht: Zuwanderung aus Südosteuropa 2015. Dortmund. Stadt Dortmund.

Stadt Duisburg. (2022, April 25). Campus Marxloh: Ein offenes Haus für Marxloh. Stadt Duisburg.

Strand, K., Marullo, S., Cutforth, N., Stoecker, R., & Donohue, P. (2003). Principles of Best Practice for Community-Based Research. Michigan Journal of Community Service Learning, 9, 5–15.

University College Cork. (2021). Community & Voluntary Organisations. University College Cork.

Wenderlich, J. (2017). Die Arbeitsmigration Bulgarischer und Rumänischer Zuwanderer in Duisburg: Die Beschäftigungssituation vor und nach der Gewährung der vollständigen Arbeitnehmerfreizügigkeit im Regionalvergleich. Duisburg. Stadt Duisburg.

Williams, C. C., & Windebank, J. (2004). Informal employment in advanced economies: implications for work and welfare (Online Edition). Routledge.

[1] Die Meinungen der Praktiker:innen

Die Fotos im Beitrag sind auf einem Rundgang im Rahmen der Forschungsarbeit entstanden.


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Autorinnen: Jess Palka & Sarah Y. Kanatli