Weniger Patriotismus wagen

by | Dec 1, 2021 | Forschung | 0 comments

Am03. Oktober dieses Jahres warb Dominik Wullers anlässlich des Tags der Deutschen Einheit in der ZEIT für einen „liberalen Patriotismus“ als „sozialen Schmierstoff, den Deutschland braucht“ (Wullers, 2021). Tatsächlich betrachtet Wullers hier explizit auch Deutschlands Rolle in der Welt, inklusive der Verantwortung für die Klimakrise: „Stellen Sie sich vor, wir könnten ein aufgeklärtes, optimistisches Wir-Gefühl als Reservoir für die Bekämpfung des Klimawandels anzapfen.“ Wullers‘ Plädoyer wird in der politischen Philosophie als „These nationaler Identität“ diskutiert (vgl. Miller & Ali, 2014). Hier plädiere ich dafür, diese These philosophisch ernst zu nehmen und sie doch zurückzuweisen.

Diese These nationaler Identität besagt, je nach konkreter Formulierung, dass eine nationale Identität die beste, oder sogar einzige Grundlage ist für eine Haltung der Solidarität oder des Gemeinsinns, die es wiederum braucht für so vielfältige Ziele wie staatliche Umverteilung, Bekämpfung der Klimakrise, gar die Beendigung globaler Ausbeutung. Die These lässt sich in zwei Überzeugungen unterteilen: Erstens, rationale Einsicht und Argumente genügen nicht, wir müssen Menschen emotional berühren, Symbolik nutzen und Geschichten erzählen. Und zweitens, diese Geschichten lassen sich am besten, oder ausschließlich, über nationale Identität erzählen; nur der Patriotismus ist stark genug, um die benötigte Solidarität über Unterschiede hinweg zu erzeugen. Die These sagt also auch, wir müssen uns entscheiden: Entweder wir bauen auf die Kraft der Emotionen und kaufen damit auch den Patriotismus ein oder alles was uns bleibt sind kühle Appelle. Dazu bauen Vertreter*innen der These nationaler Identität eine Voraussetzung ein: Sie fordern einen liberalen, bürgerschaftlichen, inklusiven Patriotismus, der nicht auf einer kulturellen oder gar ethnischen Identität beruht, sondern auf einer staatsbürgerlichen.

Vertreter*innen der These nationaler Identität versuchen damit einen realistischen Vorschlag zu machen, wie echte Verbesserung mit „echten Menschen mit echten Emotionen“ (Brock & Atkinson, 2008) gelingen kann. Gemessen an dieser Ambition sind Vertreter*innen der These leider erstaunlich wenig mit den historischen, soziologischen und psychologischen Verläufen und Mechanismen patriotischer Gefühle vertraut. So zeigen der politische Philosoph David Miller und die politische Soziologin Sundas Ali, selbst Vertreter*innen der These nationaler Identität, in einem Überblicksartikel zu empirischen Studien, dass sich kein Zusammenhang zwischen liberaler nationaler Identifikation und Unterstützung für Maßnahmen wie Umverteilung finden lässt (Miller & Ali, 2014). Sie fanden stattdessen heraus, dass ein starker Patriotismus mit der Tendenz einhergeht, die Nation eben gerade nicht staatsbürgerlich und inklusiv zu verstehen, sondern als ausschließende Kategorie. Miller und Ali geben daraufhin zu, dass die nationale Identifikation, wie sie sie in der realen Welt vorfinden nicht mit dem philosophischen Bild übereinstimmen, das sie zu zeichnen versucht haben. Das ist für sie jedoch kein Grund, ihre Philosophie zu ändern. Stattdessen setzen sie ihre Hoffnung darauf, dass sich die patriotische Identifikation ändert, eben hin zu einer liberalen, inklusiven, staatsbürgerlichen Identifikation. Während wir philosophisch vielleicht zwischen kritischem Patriotismus und gefährlichem Patriotismus unterscheiden können, zwischen einer nationalen Identität aufbauend auf „wer wir sind“ und einer, die darauf baut, „was wir teilen und gemeinsam tun“ (Laborde, 2002), ist diese Strategie politisch zweifelhaft. Für nicht wenige Kräfte ist „wer wir sind“ eine Voraussetzung dafür, „was wir teilen und gemeinsam tun können“. Weitere empirische Studien zeigen außerdem, dass die Mobilisierung nationaler Identität bei den Zuhörer*innen ausschließende nationalistische und einwanderungsfeindliche Einstellungen bestärkt – unabhängig davon, ob eine staatsbürgerliche oder ethnische Identität betont wird (Helbling et al., 2016; Sniderman et al., 2004).

Damit ein „liberaler Patriotismus“ zum „sozialen Schmierstoff“ werden könnte, müsste er sich also radikal verändern. Vertreter*innen der These nationaler Identität können sich nicht darauf ausruhen, einen vermeintlich realistischen Vorschlag zu machen, der nah an den Menschen ist, wie sie schon jetzt denken und fühlen. Die Stärke der These liegt jedoch darin, umfassende Überlegungen zu den Quellen nationaler wie globaler Solidaritätsgewohnheiten anzustellen. Ich habe dafür argumentiert, dass es die falschen Überlegungen sind, was uns jedoch nicht davon abhalten darf, selbst nach dem emotionalen Reservoir zu suchen, aus dem wir Motivation und Anleitung für die Beendigung von Ungerechtigkeiten schöpfen können. Ein erster Vorschlag zum Ende dieses Artikels: Schauen wir doch, aus welchem Reservoir beispielsweise die globale Klimabewegung schöpft. Die Aktivistin Luisa Neubauer fordert auf zu „empörter Zuversicht“ (Luisa Neubauer, 2021). Nach einem kühlen Appell klingt es nicht.

 

Literatur

Brock, G., & Atkinson, Q. D. (2008). What can Examining the Psychology of Nationalism Tell Us About Our Prospects for Aiming at the Cosmopolitan Vision? Ethical Theory and Moral Practice, 11(2), 165–179.

Helbling, M., Reeskens, T., & Wright, M. (2016). The mobilisation of identities: A study on the relationship between elite rhetoric and public opinion on national identity in developed democracies: The mobilisation of identities. Nations and Nationalism, 22(4), 744–767.

Laborde, C. (2002). From Constitutional to Civic Patriotism. British Journal of Political Science, 32(04), 591–612.

Luisa Neubauer. (2021, März 15). Eine andere Welt ist möglich. Und weil wir das auch in den dunkelsten Coronatagen nicht vergessen haben, tragen wir unsere empörte Zuversicht auf die Straße: Mit Fahrraddemos, Laufdemos, Kunst, Musik, Schildern, Bannern, Farben, Entrüstung & Hoffnung. #AnotherWorldIsPossible 5/12 [Tweet]. @Luisamneubauer. https://twitter.com/Luisamneubauer/status/1371384525993967616

Miller, D., & Ali, S. (2014). Testing the national identity argument. European Political Science Review, 6(2), 237–259.

Sniderman, P. M., Hagendoorn, L., & Prior, M. (2004). Predisposing Factors and Situational Triggers: Exclusionary Reactions to Immigrant Minorities. American Political Science Review, 98(1), 35–49.

Wullers, D. (2021, Oktober 3). Patriotismus: Auf unser vielfältiges Land dürfen wir stolz sein. Die Zeit. https://www.zeit.de/2021/40/patriotismus-deutschland-stolz-liberal-inklusiv-divers-vaterland